Wall of Fame

Portraits

GASPAR CASSADÓ
30. September 1897 – 24. Dezember 1966
Cellist

Gaspar Cassadó

Gaspar Cassadó war von 1958 bis 1966 Professor für Violoncello an der Hochschule für Musik Köln. Sein Schüler Claus Reichardt, der von 1964 bis 1966 bei Gaspar Cassadó in Köln studierte, ehe er 1987 zum Professor und 1998 zum Rektor der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf berufen wurde, erinnert sich an seinen Lehrer: „Im Frühjahr 1964 Dvorák h-moll-Konzert von Cassadó in München gehört zu haben, ließ ganz schnell und kompromisslos den Willen in mir erklingen: „Zu dem, zu keinem anderen Lehrmeister will ich, um mein Studium nach dem Examen fortzuführen.“ Viele Hemmnisse, Widerstände und Hindernisse galt es zu beseitigen, aber nach einem halben Jahr war ich Schüler des hoch verehrten Violoncellisten. Die erste Stunde zu Anfang des Semesters war schon bezeichnend für die ‚Nicht-Methode‘ dieses außergewöhnlichen Musikers, der eigentlich keine Schwierigkeit am Instrument kannte und manuell und physisch so für das Instrument gebaut war, wie ich es weder vorher noch nachher später je wieder erlebt habe. Ich hatte Valentini-Sonate und Brahms Doppelkonzert vorbereitet – die ganze Klasse wartete mit Spannung auf den „Neuen“, – spielte die ersten Takte wie in den Noten mit forte bezeichnet, und, nachdem ich ein Stück des ersten Satzes gespielt hatte, meinte der Maestro (vorher konnte ich mir nicht vorstellen, dieses Wort über die Lippen zu bringen, dann ging es wie von selbst: als wenn ich's immer schon so ausgesprochen hätte), – ich müsse geheimnisvoller, leiser, mehr poetisch, lyrisch, verhaltener spielen – und zauberte das aus seinem Andreas Guarnerius, – ich konnte das nicht nachempfinden und nachmachen im Moment, da es meiner Überzeugung absolut entgegengesetzt war – und wir arbeiteten an den anderen Sätzen, und ich versprach, das so zu üben, wie er es phantastisch vorzelebrierte. Nach zwei Wochen, ich hatte mich gewaltig angestrengt und lange gegen meine eigene Vorstellung geübt – bis es dann doch auch mir im Innersten notwendig erschien: leise, poetisch, geheimnisvoll usw. diesen Anfang zu interpretieren – und beginne also – komme aber nicht weit, weil Cassadó mich gleich unterbricht und in seinem sanften Tonfall mit leicht spanisch-französischem Akzent Sagt: „Claus, Du spielst sehr schön“, um dann mit starker kraftvoller Stimme fortzufahren „aber Du musst das spielen wie eine Fanfare, stark und mächtig und hoheitsvoll.“

Mein fast vorwurfsvoller Einwand, dass ich ja vor 14 Tagen so gespielt hätte und mich nur mühsam dazu durchgerungen, und jetzt auf einmal wieder so zu spielen hätte, unterbrach er kurz und bündig: „Siehst Du, es ist kein Tag wie die andere – der Mensch ist kein Maschin! Und gerade diese Phantasie und Wandlungsfähigkeit, was konnten wir alle davon lernen (auch wenn es in der Stunde nicht immer ganz leicht war). Und wie staunten wir, wenn er den langsamen Satz vom Schumann-Konzert vorspielte und allen von uns, die wir um ihn herumsaßen, liefen einfach die Tränen über die Wangen, ein Stück des Himmels war offen gewesen... wie oft durften wir diese unnachahmlichen, genialen, nicht zu beschreibenden Stimmungen mit ihm erleben!

Immer war es wie in einer Familie, wir waren um den Vater geschart, holten ihn vom Bahnhof oder Hotel ab, trugen ihm das Cello, diskutierten und lachten, Konkurrenz gab es selten und jeder hatte seine Stärken und Schwächen, manchmal hätte der Maestro uns am liebsten untereinander gemischt: Vom einen die Technik, vom nächsten die Musikalität und den Ernst, vom nächsten die Leichtigkeit und so weiter.

Eines Tages, ich hatte gerade ein Tweed-Jacket mit Stehkragen erstanden und Cassadó war so begeistert davon, dass er es gleich probieren musste, er meinte, dass ich darin wie ein englischer Landbaron aussähe; von diesem Tag an war ich nur noch unter dem Namen „Baron von Claus“ von Cassadó, von der Klasse, von den Studenten betitelt und unter diesem Namen bekannter als unter meinem wirklichen. Wenn er mich zum Essen einlud, was oft vorkam, dann schwirrten die Titel Baron, Maestro und Professor den Kellnern nur so um die Ohren, mit höchstem Respekt bedienten sie uns und Cassadó hatte seine große, kindliche Freude daran und konnte niemals genug davon bekommen, in allen erdenklichen Situationen. Im Frühjahr 1966 erwog ich, wegen meiner technischen Schwierigkeiten, einen Kurs in Siena bei André Navarra zu besuchen, und Cassadó fand dies sofort eine sehr gute Idee,sSchrieb an Navarra und an die Academia Chiggiana, um mich für ein Stipendium zu empfehlen und um mir zu helfen, – auf dem Rückweg musste ich ihn unbedingt in Marmara am Meer besuchen und ihm genau alles erzählen, und wurde tagelang von ihm und Madame Cassadó im feudalen Hotel so verwöhnt, wie es sich kaum beschreiben lässt – ein lehrreiches Beispiel menschlicher Großzügigkeit und „Laissez faire"...

Immer erschien er im Unterricht mit seinem Cello, der Bogen, am Frosch mit einer dicken Korkkonstruktion versehen, wurde in einem extra Etui mitgebracht, und sein Vorspielen und seine Anregungen, fast alles auswendig spielend, lassen sich in ihrer Lebendigkeit und Phantasie kaum beschreiben, das Cello weinte, lachte, sprach, flüsterte, tanzte, sang und schmeichelte in tausenden von Variationen, das Schwerste wurde leicht und immer ging es um die musikalische Essenz. Technik musste man einfach haben, so selbstverständlich war alles, wenn er es vormachte. Eigentlich gab es keine Stunde, in der nicht vom großen Pablo Casals die Rede war, und in rührender Bescheidenheit und höchster Ehrfurcht gedachte Cassadó immer seines großen, unvergleichlichen Maestros.

Oft konnte ich ihn zu seinen Konzerten begleiten und größte Momente hoher Kunst erleben, ob bei Boccherini, Bach, Beethoven, Dvorák oder Hindemith. Er spielte jede Musik und sagte einmal zu mir „Weißt Du, ich glaube, es gibt kein schlechte Musik, nur schlechte Interpreten!“ Und mit dieser Einstellung vergoldete er Töne und Stücke! Das letztemal, dass ich ihn hören konnte, war im Unterricht, ich musste aus irgendeinem Grund früher Weg und verabschiedete mich von ihm – nie durfte man einfach so kommen oder gehen! – und er, mit dem Finger an den gespitzten Lippen und seinen blitzenden Augen, sagte; „jetzt spiele ich für den Baron von Claus!“ und spielte aus seiner spanischen Sonate einen Satz wie einen Segen für mich, hatten wir doch einige Wochen zuvor ein wichtiges, tiefes, persönliches Gespräch, das mir im nachhinein die größte Hilfe war, er sagte zu mir: „Du hast Zeit, Du hast viel Zeit, ich weiß, Du Wirst Deinen Weg machen“ Und ich hatte von da an tatsächlich einen ganz anderen Umgang mit mir und meinem Cello.

Beim letzten Besuch im Krankenhaus ganz nahe der Hochschule, brachte ich ihm auf seinen Wunsch hin Thomas Mann auf italienisch mit, und er freute sich darüber sehr, war Thomas Mann doch einer seiner Lieblingsdichter und hatte er doch endlich wieder etwas Gutes zu Lesen. Auf eigene Verantwortung verließ er einige Tage später das Krankenhaus, und auf der Rückfahrt von Lissabon nach Barcelona, seiner Geburtsstadt, ist er in Madrid – im Hotel kurz nach dem Frühstück sich noch einmal ausruhen wollend, am 24. Dezember 1966 friedlich und sanft von dieser Erde geschieden, – weiterlebend in der Kunst, in seiner Musik, in seinen Aufnahmen und in seinen über die ganze Welt verstreuten Schülern. 

Claus Reichardt